100 Jahre EVP Schweiz

Der LdU ist untergegangen, die Autopartei, die Poch, die Republikanische Bewegung, die Schweizer Demokraten. Sogar der stolzen Liberalen Partei blieb am Ende nur noch die Fusion mit der FDP. Das Schweizer Wahlsystem mit seinen teilweise kleinen Wahlkreisen ist für Kleinpartei-en ein hartes Pflaster: Manche starten zwar kometenhaft, überleben aber bestenfalls ein paar Jahrzehnte. Alle ausser einer: Die Evangelische Volkspartei (EVP) feiert 2019 ihr 100-jähriges Bestehen. Am 9. März stieg der Jubiläumsakt mit Ignazio Cassis. Dass sich die EVP den bundes-rätlichen Festrednervon der FDP ausborgen muss, ist symptomatisch für eine Partei, die es zwar seit 100 Jahren gibt, die aber ebensolange klein blieb. Drei Nationalräte stellte sie in ihren besten Zeiten, derzeit sind es zwei: MarianneStreiff (BE) und Nik Gugger (ZH). Seit den 1970er-Jahren schwankt ihr Wähleranteil relativ stabil um zwei Prozent. Diese Konstanz über sehr lange Zeit ist das, was die EVP als einzige Kleinpartei schafft. Anders als die CVP. Als 30 evangelische Männer am 8.März 1919 im «Roten Haus» in Brugg beschlossen, eine christliche Partei zu gründen, schufen sie ein reformiertes Pendant zur katholischen CVP.  Ihr Ziel: die Gesellschaft mit christlich-biblischen Werten zu prägen. Seither entwickelten sich die beiden Parteien aber sehr ungleich: Während die CVP rund die Hälfte ihres Elektorats verlor, blieb die EVP auf tiefem Niveau stabil. Die Gründe liegen in der unterschiedlichen Geschichte der zwei Parteien: Die CVP vertrat früher mehr oder weniger die ganze katholische Schweiz. In den reformierten Gegenden hingegen habe «sich die Wählerschaft schon im 19. Jahrhundert nach der sozialen Herkunft auf verschiedene Parteien aufgesplittert, namentlich auf FDP und SP», sagt der Politologe Michael Hermann. Darum sprach die EVP – anders die CVP – von Beginn weg nur den harten Kern der Protestanten an. Dieser Kern hat auch die Säkularisierung über-dauert. HeinerStuder, der frühere Parteipräsident, sieht noch eine weitere Erklärung für die Langlebigkeit der EVP. «Wer bloss Karriere machen und ein politisches Ämtli ergattern will, für den ist die EVP wegen ihrer Grösse nicht interessant.» In der EVP würden sich vor allem Leute engagieren, die aus einer inneren, oft religiösen Motivation heraus etwas bewirken wollten. Zu Beginn rekrutierte die EVP ihre Leute vorwiegend in evangelischen Landeskirchen und der Evangelisch-methodistischen Kirche. In den letzten Jahrzehnten verschoben sich die Gewichte hin zu den Freikirchen. Heute, so schätzt man in der Parteiführung, halten sich Landes- und Freikirchen-Leute unter den Parteimitgliedern und Wählern ungefähr die Waage. Der äussere Auslöser zur Parteigründung war 1919 die Einführung der Proporzwahl. Erst der Proporz erlaubte es kleinen Parteien, an Sitze im Nationalrat auch nur zu denken. Schon wenige Monate nach der Gründung gewann die EVP im Kanton Zürich ihr erstes Nationalratsmandat. Der inhaltliche Auslöser für die Parteigründung war die Spaltung der Gesellschaft im Ersten Weltkrieg. «DieParteigründer wollten die schweren Spannungen zwischen Bürgertum und Arbeitnehmerschaft sowie zwischen Kapitalismus und Kommunismus überwinden», sagt Heiner Studer. Wenn die Partei auch klein blieb, so konnte sie doch mehrmals politische Erfolge feiern. Der frühere Nationalrat Paul Zigerli war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der Väter des Gewässerschutzes in der Schweiz. Heiner Studer selber erreichte als Nationalrat die Abschaffung der Gewissensprüfung für Zivildienstleistende. Ein Marketing-Coup war 1991 die Wahl von Ernst Sieber in den Nationalrat. So wie der Zürcher Obdachlosenpfarrer stellten sich schon die EVP-Gründer auf die Seite des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Das erste Parteiprogramm verfasste 1921 der Basler Geschichtsprofessor Hermann Bächtold. Die 26 Forderungen, die er für die EVP formulierte, waren für die damalige Zeit radikal: für die Gründung einer AHV; für eine Umverteilung der Vermögen durch eine hohe Erbschaftssteuer; gegen das «Übel der Steuerhinterziehung unterdem Deckmantel des Bankgeheimnisses». Dieser Einsatz für sozialen Ausgleich prägt die EVP bis heute. Die Erbschaftssteuer auf Bundesebene versuchte sie 90 Jahre nach ihrer Gründung schliesslich per Volksinitiative einzuführen, doch2015 sagte das Volk Nein. In der Gesellschaftspolitik vertritt die EVP konservative Positionen: 2002 beteiligte sie sich am Referendum gegen die Fristenregelung, 2016 wehrte sie sich vergeblich gegen die Präim-plantationsdiagnostik, und aktuell ringt sie mit der Frage, ob und wieweit die Ehe für Homosexuelle geöffnet werden soll. Wirtschafts-, sozial- und umweltpolitisch links, gesellschaftspolitisch konservativ: Diese Positionierung verschafft der EVP ein einzigartiges Profil. Weil sie trotzdem nie die für eine eigene Fraktion nötigen fünf Sitze errang, ging die EVP im Bundeshaus immer wieder abenteuerliche Allianzen ein. Mal bildete sie im Nationalrat mit den Demokraten eine Fraktionsgemeinschaft, mal mit den Liberalen, mal mit der EDU. Derzeit gehen ihre beiden Nationalräte in der 43-köpfigen CVP-Fraktion unter, was der Profilierung der Partei abträglich ist. Für den Wahlherbst 2019 setzt sich die Partei nun wieder einmal das Ziel, ihre Vertretung auszubauen und in einem dritten Kanton ein Mandat zu gewinnen. Am ehesten möglich scheint eine Rückeroberung des Aargauer Sitzes. Doch dafür bräuchte es optimale Listenverbindungen – und viel Proporzglück. Immerhin: An der Ausdauer sollte ein allfälliger Wahlerfolg bei der langlebigsten Kleinpartei der Geschichte nicht scheitern.

Quelle: Der Bund, Ausgabe vom 20.2.2019, Markus Häfliger